Was ist die europäische Schlafkrankheit? Was sind die Ursachen? Wie kann man sie behandeln? Im folgenden Beitrag finden Sie Antworten auf diese Fragen.
Krankheitsbeschreibung
Was ist die Europäische Schlafkrankheit?
Die Europäische Schlafkrankheit trat kurz nach dem ersten Weltkrieg gehäuft in Europa auf, ohne dass jemals schlüssig erklärt werden konnte, wodurch die Erkrankung entsteht. Die Betroffenen fallen dabei gegen ihren Willen in Schlaf, zudem kommt es zu einer ausgeprägten Teilnahmslosigkeit und Lethargie. In einigen Aspekten gleicht die Europäische Schlafkrankheit dem Morbus Parkinson.
Auch heute noch beißen sich Forscher die Zähne an der damaligen Epidemie aus, deren Ursachen und Hintergründe nach wie vor weitgehend im Dunkeln liegen.
Die "vergessene Epidemie"...
Die Europäische Schlafkrankheit hinterließ nach dem 1. Weltkrieg unzählige Menschen, die sich, teils über Dekaden, weder bewegen, noch kommunizieren konnten. 1915-1924 fielen geschätzt 5 Mio. Menschen weltweit der Enzephalitis lethargica zum Opfer.1 Obwohl die Mortalitätsrate höher war als die der Spanischen Grippe 1918-19, ist diese Epidemie heute kaum bekannt.
Während die akute Phase in einem Drittel der Fälle letal verlief, blieben viele Schwergeschädigte zurück, die durch postenzephalitischen Parkinsonismus (PEP) in ihrem eigenen Körper gefangen waren. Viele von ihnen lagen noch in den 60ern, von der Öffentlichkeit weitestgehend vergessen, wie Statuen auf Langzeitpflege-Stationen.
... und die Bedeutung des L-Dopa
Zu dieser Zeit sollte sich das ändern: der Neuropsychologe und Buchautor Oliver Sacks ("Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte") behandelte diese "Erstarrten" experimentell mit dem damals neuen Levodopa. Diese Substanz ist vor allem aus der Behandlung des Morbus Parkinson bekannt. Es verbessert die Beweglichkeit und andere motorische Funktionen, in dem es den Mangel an Dopamin, einem körpereigenen Botenstoff, ausgleicht.
Die Wirkung des Medikamentes war unfassbar. So überwältigend, dass Sacks mehrere Fallgeschichten in seinem Buch "Awakenings" (Zeit des Erwachens) veröffentlichte. Seither sind aus diesem Werk u.a. der gleichnamige Film (1990, mit Robert de Niro und Robin Williams) und das Theaterstück "A Kind of Alaska" (1982) entstanden.
Wiedererwachen der Persönlichkeit
"Eine Art Alaska" erzählt die Geschichte einer solchen Patientin, die durch L Dopa-Gabe nach 40 Jahren aus ihrem schlafähnlichen Zustand gerissen wird. Sie ist überzeugt, noch immer ein 21 jähriges Mädchen zu sein, bis ihre deutlich veränderte Schwester ans Bett tritt. Langsam muss sie begreifen, dass viele gute Jahre unwiederbringlich verloren sind, dass ihre Mutter nicht mehr lebt und ihr Vater erblindet ist. Ihre Schwester, die für ihre Pflege viel geopfert hat und deren Ehe sich daran zerschlagen hat, erhält nicht den erwarteten Dank der Patientin.
Bruchstückhafte Erinnerungen
Der postenzephalitischen Parkinsonismus blockiert Willkürmotorik und Sprache, sodass die Patienten die Wut oder den Unglauben über ihre eigene Situation erst nach L Dopa-Behandlung ausdrücken konnten. Doch waren sie die ganze Zeit über zu unterschiedlichem Grade wach. Die Patientin konnte sich nach ihrem "Erwachen" zum Beispiel an das Datum des Angriffs auf Pearl Harbor oder das der Ermordung Kennedys erinnern. Es erschien ihr nur alles nicht real, wie aus einer anderen Welt.
Das Besondere an dieser Patientin war, dass sie nicht akzeptierte, dass ihre Welt von 1926 verschwunden und sie in der "realen" Welt 61 Jahre alt war. In der kurzen Zeit, in der sie auf L Dopa ansprach, benahm sie sich weiter so wie das lebhafte Mädchen aus den 20ern.2
Ein Problem, welches in dem Stück nicht thematisiert wird, ist die dramatische und unvorhersehbare Wirkung von L Dopa bei postenzephalitischen Patienten. Nach anfänglichen Verbesserungen von Motorik und Sprache wurden viele binnen Monaten sowohl abhängig, als auch hypersensitiv und oszillierten zwischen unkontrollierbarer Festination, Tics, sturzbachartigen Gedankenfluten, Ängsten, Chorea und der Katatonie, in der sie Dekaden zugebracht hatten.
Ursachen
Eine (postinfektiöse) Autoimmunerkrankung?
Hypothesen dazu, was die Ursache dieser alptraumhaften Epidemie gewesen sein könnte, gibt es so viele wie Denker. Seit der Epidemie tritt die Erkrankung sehr selten auf (seit 1940 sind 80 Fälle3 beschrieben) und bei vielen ist unsicher, ob wir es wirklich mit dem gleichen Phänomen zu tun haben. Daher gestaltet sich die Erforschung schwierig. Es gab mehrere historische Epidemien, die der Europäischen Schlafkrankheit ähnelten, wie der Englische Schweiß (1529), mal mazzuco (Italien, 1597), Kriebelkrankheit (Deutschland, 1672-75), Rafania (Schweden, 1754-57) und Nona ("Schlafsucht", 1890-91).3
Wir wissen nicht, ob diese vielleicht alle in Verbindung stehen. Auch die ME/CFS könnte heute ein solcher Kandidat mit vielen Fragezeichen sein.
Antikörper gegen Streptokokken
Bei früheren und neuen Fällen waren Antikörper gegen eine seltene Streptokokkenart nachweisbar.4 Eine Theorie ist, dass das Immunsystem der Betroffenen überreagiert und die Basalganglien mit angegriffen hat, also ein "bystander damage" (entfernt ähnlich wie er sich auch als Mechanismus hinter MS durch das Epstein-Barr-Virus abzeichnet). Schwerpunktmäßig waren 10-45 Jährige von der Erkrankung betroffen, deren junges und fittes Immunsystem das gewesen sein könnte, was diese Patienten ins Grab brachte.3
Oder andere Antikörper?
Eine andere Arbeit vermutet Antikörper gegen NMDA Rezeptoren als Ursache.5 Die Klinik und die Influenza-artige Prodromalphase ähneln der NMDA-Rezeptor-Enzephalitis. Analog dazu konnte auch für Narkolepsie ein autoimmuner Trigger nachgewiesen werden (Antikörper gegen Aquaporin 4 in hypothalamischen Neuronen). Interessanterweise berichteten mehrere Länder 2009 eine Zunahme der Narkolepsie-Fälle nach Influenza-Impfung oder -Infektion während der H1N1-Pandemie, was den scheinbaren Zusammenhang von Spanischer Grippe und Europäischer Schlafkrankheit nach dem 1. Weltkrieg erklären könnte.3
Eine neuere Studie deutet auf einen mit dem Poliovirus verwandten Enterovirus als Ursache hin.6
Aktueller Stand
Was wissen wir heute über die Europäische Schlafkrankheit?
100 Jahre nach der Epidemie
So lange wir nicht wissen, was die Erkrankung verursacht hat, ist es schier unmöglich, vorherzusagen, ob sie wieder auftreten könnte und wie wir dem ggf. vorbeugen könnten. Die Europäische Schlafkrankheit wurde in einer BBC Dokumentation von 2004 als "das größte medizinische Mysterium des 20. Jahrhunderts" bezeichnet und das bleibt sie bis heute.3
Auch das Buch fesselt die Vorstellung der Leser damit, in einer Welt zu erwachen, die nicht auf die Schlafenden gewartet hat. Sacks zeigt auf, dass die Therapie solcher Patienten mehr erforderte als die Gabe eines neuen Medikamentes. "Awakenings" ist eine wichtige Mahnung, dass Heilung eine komplexe Kunst und die Idee von einer Pille, die heilen könne, eine Phantasie bleibt. Obwohl es mit L-Dopa und heftig instabilen Patienten viele Probleme gab, hinterlassen die Geschichten der Patienten die hoffnungsvolle Frage, welche scheinbar unüberwindbaren Krankheiten doch eine Heilung finden könnten.7
Quellen:
- 1. November 29, 1918 An Enemy like No Other – Today in History. https://todayinhistory.blog/2018/11/29/november-29-1918-an-enemy-like-no-other/.
- 2. Ambrogi, M. D. The awakened girl. The Lancet Neurology 18, 996–997 (2019).
- 3. Hoffman, L. A. & Vilensky, J. A. Encephalitis lethargica: 100 years after the epidemic. Brain 140, 2246–2251 (2017).
- 4. Vincent, A. Encephalitis lethargica: part of a spectrum of post‐streptococcal autoimmune diseases? Brain 127, 2–3 (2004).
- 5. Dale, R. C. et al. N-methyl-D-aspartate receptor antibodies in pediatric dyskinetic encephalitis lethargica. Ann. Neurol. 66, 704–709 (2009).
- 6. Dourmashkin, R. R., Dunn, G., Castano, V. & McCall, S. A. Evidence for an enterovirus as the cause of encephalitis lethargica. BMC Infect. Dis. 12, 136 (2012).
- 7. Allan, C. Awakenings. BMJ 334, 1169 (2007).